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Getreide füttern - eine folgenschwere Erfindung!

In der klassischen Pferdefütterung spielt das Getreide eine tragende Rolle. Meist findet sich Hafer, oft auch Gerste oder Mais in den Futtertrögen. Auch Pellets oder Müslis weisen häufig einen hohen Anteil unterschiedlicher Getreidesorten auf.

Eine getreidelastige Rationsgestaltung galt z. B.  in den späten 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als das non plus ultra der Pferdefütterung. Seinerzeit empfahl Dr. Drepper in seinem viel gelesenen Werk über die Richtige Fütterung von Zucht- und Sportpferden eine Grundration aus 4 kg Hafer und 6 kg Heu für Pferde ohne Arbeit, also für Pferde im Erhaltungsbedarf. Diese Grundration, so die Empfehlung von Dr. Drepper, sollte je nach Arbeitsleistung des Pferdes um bis zu 4,5 kg Ergänzungsfutter aufgestockt werden.

Die althergebrachte Fütterung, bei welcher Getreide oder stark getreidehaltige Mischfutter und Heu zu fast gleichen Teilen gegeben werden, ist in vielen Ställen nach wie vor üblich – das heißt aber nicht, dass sie gut ist: Die klassische Pferdefütterung geht weit an den Bedürfnissen vieler Pferde vorbei. Massive gesundheitliche Probleme und Verhaltensstörungen sind oft die Folge dieser falschen Fütterung.

Braucht das Pferd Getreide?

Das Pferd braucht durchaus kein Getreide, um gesund zu sein und satt zu werden.

Trotz des Zuchtfortschritts, den der Mensch seit dem Beginn der Domestikation des Pferdes vor ca. 7.000 Jahren erzielt hat, ist das Pferd bis heute eigentlich ein Steppentier. Sein Stoffwechsel und seine Verdauungsorgane sind auf rohfaserreiches, aber energiearmes Futter abgestimmt: Ginge es nach den Pferden, dann stünden Gräser und Kräuter, Baumrinde, Zweige, Laub und Moose auf ihrem Speisezettel. Getreide, Pellets und Müslis sind im natürlichen Futterplan der Pferde nicht vorgesehen.

Um ihren Nährstoffbedarf mit ihrem kargen Futter zu decken, waren die ursprünglichen Steppenbewohner auf lange Fresszeiten von mindestens 12 bis maximal 18 Stunden pro Tag angewiesen. Auch unseren modernen Pferden ist ein ausgeprägtes Fress- und Kaubedürfnis angeboren. Pferde sind Dauerfresser. Als absolutes Minimum für ihr Wohlbefinden gelten 8 Stunden Fresszeit pro Tag.

Wann ist ein Pferd satt?

Das Sättigungsgefühl der Pferde hat nichts mit der Nahrungsmenge zu tun, die sich in ihrem Magen befindet: Selbst wenn der mit einem Volumen von ca. 15 l relativ kleine Pferdemagen voll ist, kann ein Pferd bis zur gefährlichen Magenüberladung weiter fressen. Anders als der Mensch hat das Pferd in seinem Magen keine Dehnungsrezeptoren, die ihm signalisieren könnten, dass „nichts mehr reingeht“.

Erster Indikator für die Sättigung der Pferde ist die Trockensubstanz, die sie täglich zu sich nehmen. Die Trockensubstanz ist die Substanz, die übrig bleibt, wenn man einem Futtermittel das gesamte Wasser entzieht. In der Fütterungslehre gilt die Regel, dass auch ein Pferd, welches eine athletische Figur haben soll, täglich mindestens 1,5%  seines Körpergewichtes an Trockensubstanz braucht, um annähernd satt zu sein. Ein Pferd mit 600 kg Lebendgewicht benötigt also mindestens 9 kg Trockensubstanz am Tag.

Heu hat eine Trockensubstanz von 860 g pro kg, Hafer kommt auf 880 g pro kg. Mischfutter weisen in der Regel einen ähnlichen Trockensubstanzgehalt wie Heu auf.

Wenn wir die klassische Futterration aus 6 kg Heu und 4 kg Hafer berechnen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass das Pferd annähernd satt sein müsste: Es hat rund 8,7 kg Trockensubstanz zu sich genommen.

Dennoch kann diese klassische Futterration das Pferd praktisch nicht zufrieden stellen. Ein Sättigungsgefühl wird sich selbst bei einem ausreichenden Trockensubstanzgehalt der Futtermittel nämlich erst dann einstellen, wenn auch das angeborene Kaubedürfnis des Pferdes befriedigt ist.

Rohfaserreiche Raufutter kommen diesem Bedürfnis des Pferdes weitaus besser entgegen als Getreide oder Mischfutter: Um 1 kg Heu oder Stroh zu verzehren, macht ein Pferd ca. 3.500 Kauschläge und ist 40 bis 50 Minuten beschäftigt. Für die gleiche Menge an Hafer braucht es lediglich 800 Kauschläge, die es in ca. 10 Minuten schafft.

Berechnen wir die klassische Futterration aus 6 kg Heu und 4 kg Hafer also auch aus dieser Perspektive: Das Pferd vollzieht ca. 24.200 Kauschläge und verbringt, wenn es langsam frisst, ungefähr 5 Stunden und 40 Minuten mit dem Verzehr dieser Tagesration.

Wenn das Pferd nur Heu bekommt, braucht es davon 10,5 kg pro Tag, um den minimalen Trockensubstanzbedarf von 9 kg zu decken. Beim Verzehr dieser Menge macht das Pferd 36.750 Kauschläge und ist 8 Stunden und 45 Minuten beschäftigt – es verbringt also 3 Stunden mehr mit seiner naturgegebenen Hauptaufgabe: Fressen.

Wie kam das Getreide in den Trog?

Ein Blick in die Geschichte erklärt, warum das Getreide zum Klassiker der Pferdefütterung werden konnte.

Vor ca. 4.000 Jahren kam der Mensch auf die Idee, das Pferd als Zugtier zu gebrauchen. So konnte er sich die Kraft und Schnelligkeit des Pferdes für seine – meist kriegerischen – Ziele nutzbar machen.

Pferde vor dem Streitwagen mussten ausgesprochen leistungsfähig sein, denn sonst wäre es nicht möglich gewesen, ganze Weltreiche zu erobern. Durch Fütterungsversuche fanden unsere Vorfahren heraus, dass Getreide die Leistung des Pferdes steigert: Der Mensch hatte die bis heute praktizierte Pferdefütterung erfunden.

Neben der Leistungssteigerung hatte diese Form der Fütterung weitere Vorteile für die machtbewussten Herrscher und ihre großen Streitwagenheere mit Tausenden von Pferden: Auf einem Kriegszug hatte man einfach nicht genügend Zeit, um die Pferde allein durch Raufutter satt zu füttern. Wenn jedes Streitross 8 bis 9 Stunden am Tag gemütlich Heu geknabbert hätte, wäre manche historische Schlacht sicher ausgefallen und die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Durch die Getreidefütterung hatte man ein Mittel gefunden, um die Fresszeiten der Pferde deutlich zu verkürzen.

Außerdem wäre es unmöglich gewesen, ausreichende Mengen an Raufutter für mehrere Tausend Pferde mit auf einen Kriegszug zu nehmen. Da Getreide ein deutlich geringeres Volumen als Raufutter aufweist, hatte diese Form der Fütterung also auch große logistische Vorteile.

Heute spielen Pferde in kriegerischen Auseinandersetzungen glücklicherweise keine Rolle mehr. Im Vergleich mit dem Streitross der Antike führen die meisten Pferde gegenwärtig ein sehr beschauliches Leben als Reitpferd. Sie haben jeden Tag viele Stunden Freizeit. Ihr Energiebedarf geht selten über den reinen Erhaltungsbedarf hinaus und erreicht maximal das Maß der leichten Arbeit. Es gibt also keinen Grund, diese Pferde getreidelastig zu füttern.

Artgerechte Rationsgestaltung

Das Pferd, welches nur Heu bekommt, fühlt sich höchstwahrscheinlich weitaus wohler als sein Artgenosse, auf dessen Speiseplan auch Getreide steht. Der reine Heufresser wird kaum zu Magengeschwüren, Koliken, Zahnproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten neigen. Dieses Pferd ist zufrieden, da seine naturgegebenen Fressbedürfnisse annähernd erfüllt sind. Dieses Pferd ist gesund, da seine Fütterung seinen physiologischen Gegebenheiten entspricht.

Pferde im Erhaltungsbedarf sowie Pferde in leichter Arbeit – also der überwiegende Anteil aller Reit- und Freizeitpferde – brauchen kein Getreide, um gesund zu bleiben. Für sie ist die ausreichende Fütterung mit Raufutter, ergänzt durch ein hochwertiges Mineralfutter, die weitaus bessere und artgerechtere Alternative.

Erfolgt die Raufutterfütterung zudem noch aus engmaschigen Heunetzen oder Heusparraufen mit geringem Gitterabstand, kann die Fresszeit eines Pferdes nochmals deutlich verlängert werden. Bei leichtfuttrigen Pferden hat es sich bewährt, einen Teil der täglichen Heuration durch gutes Stroh zu ersetzen.

© Kirsten Erwentraut


Quellen & Lektüretipps

 

Bender, Ingolf: Praxishandbuch Pferdefütterung. 3., aktualis. Aufl. Franckh-Kosmos 2008, S. 40-43

 

Prof. Dr. Dr. Drepper, K.: Richtige Fütterung von Zucht- und Sportpferden. Ein leicht verständlicher Ratgeber. L. B. Ahnert, o. J., S. 42

 

Zeitler-Feicht, Margit H.: Handbuch Pferdeverhalten. Ursachen, Therapie und Prophylaxe von Problemverhalten. 2. Aufl. Ulmer 2008, S. 14f., S. 58-62