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Dem Pferderücken zuliebe: Aufsteigehilfen

Hocker, Steine, Zäune, Mauern - der reiterlichen Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, leichter auf das Pferd zu kommen. Auch im Handel ist derweil eine Fülle von Aufsteigehilfen in verschiedenen Ausführungen und Preisklassen erhältlich – und das ist gut so!

Die Vorteile einer Aufsteigehilfe für den Pferderücken sind in der Tat frappierend. Umso erstaunlicher ist es, dass es immer noch Reiter gibt, die dieses faire und pferdefreundliche Hilfsmittel kategorisch ablehnen, weil sie es für unsportlich halten.

Kennen Sie Mr. Boombastic?

Mr. Boombastic ist ziemlich cool, und es gibt ihn auch in der weiblichen Ausgabe.

Zu seinen Markenzeichen gehört es, dass er beneidenswert elegant und außerordentlich schwungvoll selbst auf das größte Pferd aufsteigen kann. Natürlich vom Boden aus! Er ist ja schließlich fit!

Für die Reitermädchen, die immer erst dieses bunte Plastiktreppchen in die Reitbahn schleppen, um von dort aus auf ihre Ponys zu klettern, hat Mr. Boombastic nur ein müdes Lächeln übrig. Mr. Boombastic ist es schließlich gewohnt, die Zuschauer auf der Tribüne zu beeindrucken, und er hat einen Ruf zu verlieren!

Vermutlich sitzt auch Mr. Boombastic gern auf einem Pferd, das locker ist und im Gleichgewicht geht. Das sieht nicht nur besser aus, sondern fühlt sich ja auch besser an. Schade, dass er das bunte Plastiktreppchen aus Prinzip verschmäht. Es könnte ihm dabei helfen, seine Ziele leichter zu erreichen.

Ein Blick auf die Wirbelsäule sowie die Rückenmuskulatur des Pferdes macht deutlich, warum die Aufsteigehilfe so wertvolle Dienste leistet.

Wirbelsäule und Langer Rückenmuskel

Spätestens im Lehrgang für das Reitabzeichen hat auch Mr. Boombastic erfahren, dass die Wirbelsäule des Pferdes einer Brückenkonstruktion ähnelt und in der Regel aus 7 Hals-, 18 Brust-, 6 Lenden-, 5 Kreuz- sowie 15 bis 21 Schweifwirbeln besteht.

Abbildung: Pixabay (Pixabay License)
Abbildung: Pixabay (Pixabay License)

Hier lohnt es sich, insbesondere die Brust- und Lendenwirbel etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, denn diese werden beim Aufsteigen vom Boden aus ganz besonders beansprucht.

Die 18 Brustwirbel sind mit den acht Trage- und den zehn Atmungsrippen verbunden. Nahe der Wirbelsäule verlaufen die Rippen fast horizontal, denn auf ihnen liegt der Lange Rückenmuskel.

Sehr interessant sind auch die Dornfortsätze, die nach oben aus den Wirbeln ragen: Diese Dornfortsätze bilden den Widerrist, welcher nach den modernen Zuchtzielen möglichst ausgeprägt sein soll, um für eine gute Sattellage zu sorgen.

Die Dornfortsätze des zweiten bis zehnten Brustwirbels zeichnen sich dementsprechend durch ihre außergewöhnliche Länge aus: Sie können bis zu 30 cm lang sein.

Um es noch einmal zu verdeutlichen: Die „eigentliche“ Brustwirbelsäule des Pferdes, bestehend aus den Wirbelkörpern, verläuft zwischen den Schulterblättern. Der Widerrist aber ragt deutlich über die Schulter hinaus, weil er aus den extrem langen Dornfortsätzen dieser Wirbelkörper gebildet wird.

Die Lendenwirbel des Pferdes weisen eine andere Spezialität auf. Sie haben deutlich unspektakulärere Dornfortsätze, aber dafür eindrucksvolle Querfortsätze: Diese Querfortsätze erreichen eine Länge von bis zu 20 cm. Die Querfortsätze dienen ebenfalls als Träger des Langen Rückenmuskels.

Dieser Muskel ist ausgesprochen stark, aber er ist kein Halte-, sondern ein Bewegungsmuskel und von zentraler Bedeutung: Er reicht vom Kreuz- bzw. Darmbein bis zum siebten Halswirbel und durchzieht somit einen großen Teil des Pferdekörpers. Er sorgt dafür, dass das Pferd im Trab schweben, dass es galoppieren, springen oder buckeln kann, denn er hebt den Rumpf des Pferdes. Außerdem ist der Lange Rückenmuskel für den Schwung des Pferdes zuständig. Dieser Muskel muss unverkrampft und losgelassen sein, damit das Pferd seinen Körper auch unter dem Reiter frei bewegen  – also „über den Rücken gehen“ – kann.

Losgelassenheit und Gleichgewicht

Im Zentrum der Losgelassenheit steht also der Rücken, dessen Muskulatur locker und unverkrampft arbeiten soll, damit dass Pferd überhaupt erst dazu fähig ist, auch unter dem Reiter echten Schwung zu entfalten. Nach dem Takt ist die Losgelassenheit das zweite grundlegende Element der Ausbildungsskala.

Das Gleichgewicht des Pferdes führt uns unmittelbar zu einem weiteren, schon fortgeschrittenen Element der Ausbildungsskala, nämlich zum Geraderichten des Pferdes. Unter Geraderichten versteht man, das Pferd so zu gymnastizieren, dass es  beide Seiten seines Körpers gleichmäßig belasten und einsetzen kann, um die von ihm geforderten Aufgaben zu erfüllen.

Wir erinnern uns: Auch Mr. Boombastic möchte, dass sein Pferd locker und ausbalanciert ist. Schauen wir ihm also beim Aufsteigen zu.

Das  Aufsteigen

Das Aufsteigen ist eine komplizierte Übung, die für manchen Reitanfänger eine echte Herausforderung darstellt. Doch selbst Mr. Boombastic, der sein Pferd so schwungvoll und elegant erklimmen kann, strapaziert Brust- und Lendenwirbel sowie die Rückenmuskulatur seines Pferdes, sobald er sich vom Boden aus ans Aufsteigen macht.

Mr. Boombastic steht also, zum Aufsitzen bereit, auf der linken Seite des Pferdes. Er greift mit seiner linken Hand an dessen Widerrist (in die Mähne, die Sattelkammer oder an den Vorderzwiesel des Sattels) und platziert seinen linken Fuß im Steigbügel. Ob er will oder nicht: Gleich wird er den Widerrist, also die langen Dornfortsätze der Brustwirbelsäule, auf seine Seite ziehen, wobei eine erhebliche Hebelwirkung entstehen wird. Das Pferd wird sich im Rücken verdrehen, der Lange Rückenmuskel wird dagegenhalten müssen und sich verspannen.

Nun stellt Mr. Boombastic sich auf die Zehenspitzen des rechten Fußes und ergreift mit der rechten Hand den Hinterzwiesel des Sattels. Ob er will oder nicht: Gleich wird er die Lendenwirbel des Pferdes auf seine Seite ziehen. Wieder wird der Lange Rückenmuskel gegenhalten müssen und sich verspannen.

Denn nun stößt Mr. Boombastic sich mit dem rechten Fuß vom Boden ab und schwingt sein rechtes Bein gekonnt über die Kruppe des Pferdes. Sowohl seine linke als auch seine rechte Hand unterstützen ihn auf seinem Weg nach oben. Unwillkürlich zieht er sich am Sattel bzw. am Pferd hoch. Ist er auf der richtigen Höhe angekommen, wandert auch seine rechte Hand zum Vorderzwiesel des Sattels. Dort stützt er sich mit beiden Händen ab und setzt sich in den Sattel. Ob er will oder nicht: Nicht nur seitlich, sondern auch senkrecht übt er dabei massiven Druck auf den Rücken seines Pferdes aus.

Mr. Boombastic ist smart auf seinem Pferd gelandet.

Doch so sportlich und idealgewichtig er auch immer sein mag: Seit er den Boden verlassen hat, ist er eine große Strapaze für Brust- und Lendenwirbel des Pferdes sowie für dessen Rückenmuskulatur gewesen – er konnte gar nicht anders!

Somit hat Mr. Boombastic auch seinem eigentlichen Ziel, nämlich auf einem ausbalancierten und losgelassenen Pferd zu reiten, vom ersten Moment an entgegengewirkt.

Ein Video von Centaur Biomechanics illustriert sehr anschaulich, wie der Pferderücken – und natürlich auch der Sattel – beim Aufsteigen vom Boden aus mit dem Gewicht des Reiters zu kämpfen haben. Der Rücken des Pferdes verwindet sich auf nahezu dramatische Weise.

Zahlen und Fakten

Wenn man wie Mr. Boombastic vom Boden aus aufsitzt, beginnt  jeder Ritt für das Pferd damit, kräftig aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden und den so wichtigen Langen Rückenmuskel erheblich an- bzw. verspannen zu müssen.

Die Zeitschrift Cavallo veranschaulicht das Problem mit eindrucksvollen Zahlen: Wenn ein Reiter, der 90 kg auf die Waage bringt, einen 475 kg schweren Haflinger erklimmt, belastet er die  Beine auf der Aufstiegsseite seines Pferdes abrupt mit 479 Kilo, während die andere Seite des Pferdes in diesem Moment nur 56 Kilo zu tragen hat.

Nach einer Studie der Deutschen Akademie des Pferdes lassen sich drei unterschiedliche Varianten der Belastung messen, welche beim Aufsteigen zwangsläufig entstehen:

  • Die Druckbelastungen senkrecht vom Sattel auf den Pferderücken,
  • die seitliche Zugbelastung der Wirbelsäule,
  • die seitlichen Zugkräfte durch die Hand des Reiters.

Das schöne Resultat dieser lesenswerten Studie ist: Alle drei Arten der Belastung lassen sich durch eine Aufsteigehilfe deutlich reduzieren.

Fair und pferdefreundlich

Manche Reiter versuchen, die Belastung für den Pferderücken durch abwechselndes Aufsteigen von links und rechts zu minimieren. Dadurch kann einem langfristigen „Schiefziehen“ des Pferdes auf eine Seite – meist ist es die linke – vermutlich entgegengewirkt werden. Dennoch werden die Wirbelsäule sowie die Rückenmuskulatur auch bei dieser Methode mit jedem Aufsitzen einseitig belastet.

Natürlich sollte jeder Reiter auch vom Boden aus aufsitzen können, denn man kann immer in eine Situation geraten, in der sich einfach kein Gegenstand findet, den man als Aufsteigehilfe benutzen könnte. Auch ist nicht immer ein Helfer zur Stelle, der den Reiter auf das Pferd heben oder zumindest gegenhalten könnte. Doch das Aufsteigen vom Boden aus sollte die absolute Ausnahme sein.

Eine Aufstiegshilfe, welche keine Unfall- oder Verletzungsgefahren birgt, ist immer die bessere Alternative für Pferd und Reiter: Sie zu verwenden, ist keineswegs unsportlich, sondern fair und pferdefreundlich!

© Kirsten Erwentraut

 


Quellen & Lektüretipps

 

Cavallo-Check: Voll auf der Höhe. Fünf Aufstieghilfen im Test

 

Centaur Biomechanics: Mounting from the ground [Video]

 

Deutsche Akademie des Pferdes: Studie über eine Aufsitzhilfe für Reiter. Warendorf 2002

 

Deutsche Reiterliche Vereinigung e. V. – Bereich Sport – Bundesverband für Pferdesport und Pferdezucht, Fédération Equestre Nationale (FN) (Hrsg.): Die Reitabzeichen der Deutschen Reiterlichen Vereinigung. Gut vorbereitet für die Prüfung. 7., überarb. Aufl. FN-Verlag 2000, S. 155, S. 110-120

 

Heuschmann, Gerd: Finger in der Wunde. Was Reiter wissen müssen, damit ihr Pferd gesund bleibt. 2., überarb. Aufl. Wu Wei 2008, S. 49f., S. 55-60